Haltung im Rolfing - Ihr Potential - Junge Frau in schauspielerischer Haltung
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Manchmal ist Haltung mehr Schein als Sein!

Wenn wir schauspielern, dann können wir eine besondere Haltung einnehmen. Aber wir können nie ohne Haltung sein. Und wenn wir aufhören etwas vorzugeben, dann spiegelt unsere Haltung uns wider. Deswegen erkennen wir Mitmenschen aus dem Augenwinkel, am Gang, der Bewegung und eben auch an der für sie typischen Haltung.

Wenn ich als Rolfer sage, „Im Rolfing geht es um Haltung, …“, dann komme ich meist gar nicht weiter. Jeder richtet sich etwas mehr auf oder sitzt ein bisschen gerader und erwidert: „Ja – ja eigentlich müsste ich mehr für meine Haltung tun …“. Wir alle meinen, Haltung sei aufrecht sein, gerade gehen, imposant daherkommen, etwas darstellen. Für die Bühne mag das stimmen. Ansonsten zeigt sich darin unser Lebensweg und der ist irgendwann lang und hinterlässt seine Spuren – das ganze nennen wir dann Haltung.

Faszien – Organ der Haltung und Gewebe unseres Lebens

Rolfing behandelt als Faszientherapie tatsächlich unsere Haltung und dies ist ein großer Anspruch. Denn es geht ums große Ganze – unsere eigene Organisation in der Aufrichtung mit unserer Lebensgeschichte. Obwohl Haltung so allgegenwärtig ist, so gibt es doch einiges zu klären. Aus „Was ist die richtige Haltung“ soll werden, „Was ist die richtige Haltung für mich“ und wie komme ich dahin. Dazu im Folgenden mehr.

Einschub – Orientierung als feste Größe in der Haltung

Unser Nervensystem zieht es offensichtlich vor, Aufgaben nacheinander anstatt gleichzeitig zu erledigen. Erst stabilisieren, dann bewegen. Erst orientieren, dann starten. Auch die Bewegungen haben eine Richtung. Wenn wir Rechtshänder sind gilt: Wir starten lieber mit rechts als mit links. Durch unsere Aufrichtung auf zwei Beine sind wir im Vergleich zum Vierbeiner sehr instabil geworden. Dadurch ist eine weitere Ebene der Orientierung für unser Nervensystem dazugekommen. Starten wir ob oder unten. Oder um es im Sprach der Rolfer zu benennen, sind wir boden- oder raumorientiert. Dies ist eine Prägung, die wir nur schwerlich ablegen können. Wenn Sie mehr dazu lesen wollen, dann finden Sie hier mehr.

Ein Startpunkt für Bewegung

Schwimmerin auf einem Startblock in gespannter Haltung zum Sprung bereit

Stellen Sie sich vor, Sie wollten 50 Meter schwimmen. Um dafür ins Wasser zu springen, suchen Sie sich einen Startblock aus. Für das Schwimmen ist es eigentlich egal, 50 Meter bleiben 50 Meter. Die Bewegungen und das Ziel sind gleich. Doch der Punkt dabei ist, Sie entwickeln mit der Zeit Ihre besondere Vorliebe für einen Startblock. 7 ist genau richtig, entweder weil als Kind immer Ihre Mutter dort saß oder Sie genau von dort den Duft verbotener Pommes rochen. Wie auch immer – der Grund für Ihre Vorlieben hat das Leben geliefert – Sie starten immer von 7.

Haltung ist solch ein Startpunkt. Von hier aus starten all Ihre Bewegungen. Und auch hier entwickeln Sie Ihre ganz persönlichen Vorlieben. Die Gründe sind mannigfaltig. Ein guter Grund sind Vorbilder, häufig aus der Familie – Sie kennen es vielleicht. Alle in einer Familie haben dieselbe Haltung, dieselben hängenden Schultern, das gleiche vorgestreckte Kinn. Ein anderer Grund sind erlernte Glaubenssätze: Ich bin zu klein, deswegen muss ich immer besonders gerade gehen. Ich bin zu dick, Bauch einziehen. Ich bin zu groß, geh bloß nicht aufrecht, ich falle schon so genug auf. Und um nur noch einen aus vielen zu nenne: Sie haben Verletzungen oder Schmerzen verinnerlicht: „Meine rechte Schulter will nicht mehr richtig“.

Die zwei Seiten der persönlichen Haltung

Die verschiedenen Aspekte Ihrer Haltung waren die für Sie bestmöglichen Lösungen als Sie diese für sich übernommen haben: als Sie als Kind bewundernd Ihrem Vater mit seinem gebeugten Rücken hinterhergingen, als Sie mit 14 Ihre Größe in der Schulklasse wahrnahmen oder als Sie einen Sommer lang diesen doofen Ferienjob in der Pommesbude trotz der entzündeten Schulter ausgehalten haben. Dies alles addierte sich zu Ihrer Haltung. Es waren sicher keine bewussten Entscheidungen. Dennoch waren es die bestmöglichen, die jeweils zur Verfügung standen.

Haltung – ein Startpunkt wofür?

Die andere Seite derselben Medaille: Nicht jede Bewegung startet gleich gut aus jeder Haltung. Wenn also Ihre Schulter etwas mehr nach vorne eingerollt ist, dann ist das beim Tennis für die Vorhand nicht ideal. Ist Ihre Hüfte eher nach hinten gekippt, dann fällt Ihnen Joggen nicht so leicht. Wenn Ihre Kniescheibe eher nach innen zeigt, dann wäre klassisches Ballett für Sie nicht die erste Wahl.

Einschub – Warum dann diese Haltung im Militär?

Rekruten in Haltung werden von König Georg V. inspiziert
Der englische König Georg V. inspiziert junge Rekruten

Wenn Haltung tatsächlich unseren Startpunkt für Bewegung festlegt, dann stellt sich doch die Frage: Warum diese Haltung? Die ist ja keine nationale Besonderheit, sondern weltweit für gut befunden worden. Doch gut wofür? Füße zusammen, gerader Rücken, Kopf zurück.

Diese Haltung soll Bewegung verhindern, weder Flucht noch Angriff – ja sogar das Sprechen (der Kehlkopf wird nach hinten blockiert.) Ganz im Gegensatz dazu die Haltung des Königs: viel mehr wie eine angespannte Feder, um agieren zu können, mit freiem Hals für Befehle. Vielmehr wie eine Katze, die zum Sprung auf die Beute ansetzt.


Zuviel Energie – nur um zu stehen oder um zu starten

Haltung Rolfing - Faszien ein Organ für Haltung
Faszien-Therapie

Sie sehen 2 Männer, 2 Haltungen, 2 sehr unterschiedliche Startpunkte für Bewegungen und indirekt 2 ebenso unterschiedliche Lebenswege dahinter. Schauen wir genauer.

Der linke Mann steht auf seinem Vorderfuß, gefühlt hat er etwas Luft unter seiner Ferse. Dadurch ist seine Wade permanent „an“, um nicht vollends nach vorne zu fallen. Von dort setzt sich diese Spannung über die rückwärtige Beinseite bis in den unteren Rücken fort, irgendwann wird ihm der Lendenwirbelbereich schmerzhaft auffallen. Seine Struktur ist wie ein Bogen, der über die Rückseite gespannt wird und sich über die Bauchseite vorwölbt. Seine Kinnposition lässt vermuten, dass er eigentlich immer in den Himmel schaut, was er hoffentlich nicht tut.

Die Kosten für den Ausgleich der Kopfhaltung wird eine hohe Spannung im Nacken sein. Probieren Sie es selbst: Verlagern Sie Ihr Gewicht auf den Vorderfuß, als ob sie gleich loslaufen wollten. Dann richten Sie sich über eine Rückenspannung so weit auf, dass Ihr Kinn leicht nach oben zeigt und richten dennoch Ihre Augen zu Boden. Und – wie fühlen Sie sich? Wenn Sie in dieser Haltung zu Hause sind, wird  Ihnen nichts auffallen, andernfalls rebelliert Ihr gesamtes System wahrscheinlich. Und was ist der Vorteil dieser Haltung? Nun, sie sind stets unter Spannung und damit sind Sie schnell – wohin auch immer.

Das Gewebe als Stütze

Der rechte Mann wird wahrscheinlich immer hören, er müsse mehr Sport treiben, um eine bessere Haltung zu bekommen. Bewegung ist immer eine gute Idee, doch welchen Startpunkt wählt dieser Mann? Sein Bauchansatz täuscht darüber hinweg, dass er auf der Vorderseite vom Knie bis zum Kinn unter Spannung steht. Um einen Schritt vorwärts zu tun, muss er recht aufwändig sein Gewicht nach vorne hieven. Wie anstrengend! Wahrscheinlich lässt er es dann im Zweifel auch lieber sein. Fatal wäre es jetzt wegen seines Bauchansatzes auch Sit-Ups zu trainieren. Damit würde er vorne noch kürzer und somit trotz Sport immer schwerfälliger. Er hängt in seinem Gewebe und in seinen Knien muss er den enormen Zug nach hinten kompensiert, um nicht nach hinten zu fallen. Knieprobleme scheinen da vorprogrammiert, was weitere Bewegungsfreuden reduziert. Und welche gute Seite hat diese Seite? Ihn wird wahrscheinlich nichts so leicht aus der Ruhe bringen.

Sicherheit zuerst oder Warum meine Haltung

Hundewelpe unter einem Regenschirm in Sicherheit. Neugieriger Blick auf den Betrachter.

Wir alle wissen, das Leben ist kein Ponyhof. Und deswegen verinnerlichen wir in unserem Leben ein großes Spektrum möglicher Gefahren. Wir vermeiden Schaden für uns selbst, indem wir zuerst und vor allem Sicherheit herstellen wollen. Dieser Platz an Sicherheit ist unser Ausgangspunkt für unser Verhalten und mögliche Bewegungen. Diesen sicheren Ausgangspunkt sehen wir als Haltung. Und da sich unsere Erfahrungen im Leben verändern, verinnerlichen wir im Laufe der Zeit auch neue Gefahren oder lernen Gefahren neu zu bewerten und folglich ändert sich unsere Haltung.

Haltung ist das Ergebnis von Lernen

Nun werden Sie wohl sagen, dass es doch auch das Gewebe ist, dass unsere Haltung bestimmt. Die schiefen Beine im Alter oder der krumme Rücken, den alle in Ihrer Familie haben. Ja und nein. Unser Gewebe hält unsere Haltung und unterstützt durch Umbau diese Haltung. Muskeln werden durch Benutzung stärker, Sehnen dicker, Knochen passen sich an Zug und Druck an, Bindegewebe kann fester werden, um Halteaufgaben zu übernehmen. Der Lehrsatz „Funktion (Nutzung) bestimmt die Form“ gilt. Diese Erkenntnis ist ungemein beruhigend. Wir passen uns an, wir können uns anpassen. Wir müssen „nur“ umlernen, andere, neue Funktionen zu nutzen und Sicherheit darin hinzugewinnen. Dann ändert sich auch unsere Haltung. Und nur deswegen kann Rolfing auch von sich behaupten als Therapie haltungsorientiert zu sein.

Lesen Sie auch die „offizielle“ Darstellung von Rolfing auf der europäischen Rolfing Verbandsseite. Diese finden Sie hier.